Als ich im vergangenen Jahr begann, mich mit dem Thema digitale Barrierefreiheit zu beschäftigen und mein Netzwerk in meine Recherche einbezog, stieß ich sofort auf Widerstand. „Wieder ein unnötiges Gesetz, das es den Unternehmen nur schwerer macht!“ oder „Braucht man das wirklich?“ lauteten die ersten Reaktionen. Und ja, auch ich bin grundsätzlich kein Freund von Vorschriften und Gesetzen, wenn es um die Umsetzung von Standards und Normen geht. Doch ein Blick auf die Geschichte der Barrierefreiheitsbestrebungen im digitalen Raum zeigt schnell, dass es ohne gesetzliche Eingriffe kaum möglich ist, echte digitale Inklusion zu erreichen.
Was bisher geschah (Spoiler: Nicht genug!)
Bereits seit 1999 existieren die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), also die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte. Zu diesem Zeitpunkt wurden insgesamt 65 Erfolgskriterien definiert, die in drei Prioritätsstufen unterteilt waren: Priorität 1 (muss erfüllt werden), Priorität 2 (sollte erfüllt werden) und Priorität 3 (kann erfüllt werden), um eine Webseite als barrierefrei bezeichnen zu können. Aber seien wir mal ehrlich: Wann haben Sie zum ersten Mal von diesen Richtlinien gehört – es sei denn, Sie sind ein Webentwickler mit besonderem Interesse an Zugänglichkeit?
Trotz der WCAG und zahlreicher Initiativen zur Förderung der Barrierefreiheit im digitalen Raum sind die Fortschritte in der Praxis oft schleppend. Webseiten, Apps und digitale Dienste sind immer noch häufig schwer zugänglich für Menschen mit Einschränkungen, sei es aufgrund von Sehbehinderungen, Hörverlust oder motorischen Einschränkungen.
25 Jahre nach Einführung der Standards gehört Barrierefreiheit allmählich zu den Best Practises der Webseitengestaltung. Doch noch immer wird Barrierefreiheit in vielen klassischen Webdesign-Studiengängen nur in einzelnen Modulen oder als Teil des UX/UI-Designs behandelt. Google engagiert sich zwar bereits seit längerem in diesem Bereich, aber ein direkter Rankingfaktor ist Barrierefreiheit bis heute nicht. Sie ist lediglich ein „netter Nebeneffekt“ von Benutzerfreundlichkeit, Mobile Optimierung oder schnellen Ladezeiten und hat damit bis heute nur einen indirekten Einfluss auf die Suchmaschinenplatzierung.
Wie geht es weiter?
Ich ziehe gerne einen Vergleich zwischen dem BFSG und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Auch hier wurde eine EU-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt, mit dem Ziel, Mindeststandards für den Schutz personenbezogener Daten in Europa zu etablieren. Obwohl das Datenschutzgesetz bereits 2016 verabschiedet wurde, waren viele Webseitenbetreiber und alle, die personenbezogene Daten verarbeiten im Jahr 2018 völlig unvorbereitet auf die neuen Regelungen. Inzwischen gehört der Datenschutz – wenn auch noch immer etwas widerwillig – zum guten Ton und Standardrepertoire eines jeden Unternehmens. Aus dem steinigen Feldweg ist zwar noch keine Datenschutz-Autobahn geworden, aber zumindest eine befahrbare Landstraße.
Das BFSG dagegen lässt sich derzeit noch eher mit einem Trampelpfad gleichsetzen: Ein nicht allzu konkret formulierter Gesetzestext trifft auf eine noch nicht ausgereifte Infrastruktur. Noch zu Beginn des Jahres 2025 war auf der Webseite der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit zu lesen:
Da wir personell erst in diesem Jahr vom Gesetzgeber für diesen Beratungsauftrag ausgestattet werden, können wir Anfragen derzeit nur mit zeitlicher Verzögerung und nach vorhandenen Kapazitäten beantworten.
Auf einer Informationsveranstaltung des Bundesministeriums für Arbeit (BMAS) im März 2025 blieb so manche Teilnehmerfrage unbeantwortet – stattdessen hieß es dann nur: ‚Das werden die ersten Gerichtsprozesse zeigen.‘ Knapp drei Monate vor Inkrafttreten des Gesetzes sind die für die Durchsetzung zuständigen Marktaufsichtsbehörden der Länder noch nicht eingerichtet. Stattdessen läuft derzeit ein Antragsverfahren der Länder mit dem Ziel, eine zentrale Marktüberwachung zu etablieren.
Der Weg zur digitalen Barrierefreiheit ist zweifellos lang und voller Herausforderungen. Doch mit dem BFSG gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung. Idealerweise würde jedes digitale Produkt von Beginn an nach dem Prinzip ‚Accessibility First‚ entwickelt – vergleichbar mit dem ‚Mobile First‘-Ansatz der vergangenen Jahre. In der Praxis jedoch zeigt sich: Ohne verbindliche gesetzliche Vorgaben, wie sie das BFSG schafft, bleibt Barrierefreiheit für viele Unternehmen zweitrangig – vor allem, wenn keine spürbaren Konsequenzen drohen.

Mehr als eine gute Geste
Ein inklusiveres Internet bedeutet ein Internet für alle – und das ist nicht nur ein ethisches Gebot, sondern auch ein wirtschaftlicher Vorteil. Laut der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit und Informationstechnik (Bfit-Bund) sind mehr als 30 % der Bevölkerung von digitalen Barrieren betroffen. Denn entgegen der allgemeinen Ansicht, profitieren nicht nur Menschen mit Beeinträchtigung von Zugänglichkeit, sondern beispielsweise auch Ältere oder Menschen, die nur vorübergehend beeinträchtigt sind. So lag der Anteil der über 65-jährigen 2022 bei 22 % und wird bis ins Jahr 2050 auf 27 % steigen. Diese demografische Entwicklung zeigt: Barrierefreiheit ist kein Nischenthema. Sie wird zunehmend zum zentralen Qualitätsmerkmal digitaler Produkte und Dienstleistungen.
Wer heute digital unterwegs ist kann es sich schlicht nicht mehr leisten, große Teile der Bevölkerung auszuschließen. Ein barrierefreies Design erhöht nicht nur die Reichweite und Nutzerzufriedenheit, sondern auch die Markenwahrnehmung und Kundenbindung. Kurzum: Digitale Barrierefreiheit ist kein „Nice-to-have“, sondern ein „Must-have“ – für Unternehmen, Behörden und Gesellschaft gleichermaßen. Wer heute in digitale Barrierefreiheit investiert, handelt nicht nur verantwortungsvoll, sondern zukunftsorientiert.